Musikgeschichte im 20. Jahrhundert: Von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Musikgeschichte im 20. Jahrhundert: Von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen
Musikgeschichte im 20. Jahrhundert: Von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen
 
Den vielstimmigen Werdegang der Musikgeschichte als Partitur zu sehen, ist einleuchtend. Dass unterschiedliche Stimmen zu verschiedenen Zeiten einsetzen, dass sie versetzte Höhepunkte haben können, dass jähe Wechsel bisweilen doch vorbereitet sind, dass dominierende Stimmverläufe von anderen abgelöst werden können und gleichzeitig Unterschiedlichstes stattfindet - all das ist für den Leser von Partituren nichts ungewohntes. Der Vergleich der Polyphonie der Musikgeschichte mit einer Partitur hinkt jedoch in mehrerer Hinsicht. Zum einen liegt uns die »Partitur« der Geschichte in keiner Weise als »Werk« vollständig und geschlossen vor, sondern wird erst von uns erstellt, wenn wir Geschichte erzählen. Zum zweiten ist es bedenkenswert, was eigentlich den verschiedenen Stimmen der Partitur entsprechen soll: Leben und Werk der einzelnen Komponisten, die Geschichte der Sinfonie, des Streichquartetts und anderer Gattungen; oder die verschiedenen Musiken im Kontext der kulturellen Bedingungen? Und drittens ist die stillschweigende Voraussetzung, von einzelnen »Stimmen« des Geschichtsverlauf auszugehen, ja ihrerseits zu überprüfen. Sie sind keineswegs sauber getrennt gegeben, sondern »unsere« Musik-Geschichten sind es, die einzelne Stimmen herausfiltern. Das Stimmengewirr, welches eher einer Tonaufnahme entspricht, als einer sorgfältig geschriebenen Partitur; einer Tonaufnahme, bei der Musiken und Geräusche bunt gemischt sind. Es stellt sich die Frage, was wir in unseren Geschichten als »Geräusch« eher ausblenden, und was wir umgekehrt als zentrale Stimmen hervorheben.
 
Das 20. Jahrhundert: eine beunruhigende Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen stürmt auf uns ein, wenn wir uns allein auf musikgeschichtlich etablierte Stimmen beschränken. Während Gustav Mahler 1908 seine neunte Symphonie schrieb, wagte Skrjabin seinen »Prometheus-Akkord«, formulierte Charles Ives seine »Unanswered Question«. Ganz Berlin stand Ende der Zwanzigerjahre im Bann von Bertolt Brechts »Dreigroschenoper«, während Alban Bergs »Wozzeck« uraufgeführt wurde.
 
Doch auch weniger bekannte Stimmen können in den Vordergrund gespielt werden. 1936 komponierte im Londoner Exil Berthold Goldschmidt vielversprechender Meisterschüler von Franz Schreker, sein Zweites Streichquartett. Dessen dritter Satz »Folia« nimmt auf den Wahnsinn der damaligen Zeit Bezug. Gleichzeitig entstand während der nationalsozialistischen Herrschaft Werner Egks »Olympische Festmusik«. Im November desselben Jahres war Adolf Hitler, als er auf der dritten Jahrestagung der Reichskulturkammer in der Berliner Philharmonie unter anderem mit Franz Lehár, dem in dieser Periode meistgespielten Operettenkomponisten zusammengetroffen war, noch »Tage danach beglückt über dieses bedeutungsvolle Zusammentreffen«, wie Albert Speer überlieferte. Lehár ließ Hitler daraufhin eine Abschrift von »Lippen schweigen«, mit Widmung, zukommen. Seine jüdische Frau wurde nach ständiger Überwachung durch die Gestapo schließlich »arisiert«. Als sein Librettist Fritz Löhner-Benda, bekannt für Schlagertexte wie »Was machst du mit dem Knie, lieber Hans« oder »Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren«, ins Konzentrationslager Buchenwald geschickt wurde, wurde Lehár umgehend bei Hitler vorstellig. Doch vergebens, Löhner blieb in Buchenwald und schrieb dort das »Buchenwaldlied«. Später kam er in Auschwitz ums Leben.
 
Im Jahre 1967 äußerte sich der politisch engagierte italienische Avantgarde-Komponist Luigi Nono im Gespräch über die Musik von Dmitrij Schostakowitsch: »Ich meine, dass Musik wie die von Schostakowitsch keine Zukunft hat und damit keine Funktion, weil sie technisch so armselig ist und am Potenzial der heutigen Möglichkeiten vorbeigeht. Das ist sozialistischer Realismus im üblen Sinn - alte Formen, die man mit neuem Inhalt zu füllen versucht, falsch verstandene Volkstümlichkeit.« Kurz zuvor hatte sein amerikanischer Kollege Leonard Bernstein freimütig, »wenn auch unglücklich« gestanden, »dass ich in diesem Augenblick, während ich dies schreibe, Gott möge mir verzeihen, einen viel größeren Gefallen an den musikalischen Abenteuern von Simon und Garfunkel finde oder daran, der »Association« zuzuhören, wenn sie »Along Comes Mary« singt, als dem meisten, was heute von der Gesinnungsgemeinschaft der »Avantgarde«-Komponisten geschrieben wird.. .. Es scheint mir, als wäre die Pop-Musik das einzige Gebiet, auf welchem es schamlose Vitalität, das Vergnügen am Einfall, das Gefühl frischer Luft gibt. Alles Übrige erscheint plötzlich altmodisch: elektronische Musik, serielle Musik, aleatorische Musik - ihnen haftet bereits der muffige Geruch des Akademischen an. Selbst der Jazz scheint peinlich festgefahren zu sein. Und die tonale Musik ist herrenlos in Schlaf verfallen«.
 
Das Phänomen der Gleichzeitigkeit führte in der Musik des 20. Jahrhunderts zu einer aufregenden Verräumlichung, etwa in den Kompositionen von Edgar Varèse: »Wir haben heute drei Dimensionen in der Musik: horizontale, vertikale und dynamische Zu- und Abnahmen. Ich möchte eine vierte hinzufügen: Klangprojektion - jenes Gefühl, dass Klang uns ohne die Hoffnung verlässt, durch Reflexion zurückgeworfen zu werden, ein Gefühl vergleichbar dem, das durch Lichtbündel hervorgerufen wird, die ein mächtiger Scheinwerfer aussendet -, Projektion für das Ohr vergleichbar jener für das Auge, jenes Erlebnis von Projektion, von Abreise in den Raum.« Für das, was Varèse in Werken wie »Intégrales« (1925) oder »Ionisation« (1929 bis 1931) realisiert, ist »Polyphonie« nur ein unzureichender Begriff. Klangfiguren, Klangkörper und Texturen bewegen sich mit unterschiedlichen und wechselnden Geschwindigkeiten, gleichsam auf getrennten Kanälen im Klangraum. Kein Wunder, dass von Varèses Konzept der »Simultaneität« vielfältige Anregungen auf die elektronische Musik und auf die Klanginstallation in der zweiten Jahrhunderthälfte ausgingen.
 
Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen scheint auf allen Ebenen das Stimmengewirr der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts zu bestimmen, und die Anstrengung und gleichzeitige Willkür, Hauptstimmen zu bestimmen, wird offensichtlich. Fraglich ist allerdings, ob vergangene Jahrhunderte nicht auch wesentlich durch die Selbstverständlichkeiten des Selektierens weniger disparat erscheinen. Das Nebeneinander unterschiedlicher Stilprägungen ist natürlich auch schon in der früheren Musikgeschichte anzutreffen. So wie sich im 18. Jahrhundert beispielsweise Johann Sebastian Bachs Spätwerk und galanter und empfindsamer Stil gegenüberstehen, präsentieren sich um 1950 die Entwicklung des Serialismus, die Formalismusdebatte, Paul Hindemiths gelehrter Altersstil, die Schlager der Nachkriegszeit und vieles andere in unvermittelter Gleichzeitigkeit. Die Geschwindigkeit, in der sich heute Lokales und Internationales verschränkt, durchkreuzt oder beziehungslos aneinander vorbeilebt, scheint allerdings einen Grad angenommen zu haben, der kaum noch steigerungsfähig erscheint. Diese ständige Gegenwart unterschiedlichster Musiken aus allen Zeiten und allen Teilen der Welt, Zeitstilen und Interpretationsweisen wird wesentlich durch die kontinuierliche Präsenz medialer Vermittlung mitbestimmt. Alles ist prinzipiell verfügbar, doch vieles bleibt vorenthalten. Das Bild von der Kugelgestalt der Zeit oder fraktale Strukturbildungen der Chaostheorien scheinen diesem Stimmen- und Geräuschgewirr vielleicht angemessener zu sein, als alle Bemühungen, lineare Einzelstimmen herauszulösen und über diese Linearisierung die Welt darstellbar und beherrschbar zu machen.
 
Prof. Dr. Hartmut Möller
 
 
Danuser, Hermann: Die Musik des 20. Jahrhunderts. Sonderausgabe Laaber 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Поможем написать реферат

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Musik — Töne; Klänge; Tonkunst * * * Mu|sik [mu zi:k], die; , en: 1. <ohne Plural> Kunst, Töne in bestimmter Gesetzmäßigkeit hinsichtlich Rhythmus, Melodie, Harmonie zu einer Gruppe von Klängen und zu einer Komposition zu ordnen: klassische,… …   Universal-Lexikon

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”